Page 15 - STIL 2 2024
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„ES BRAUCHT GRÜNE LEITMÄRKTE“
Interview mit Kerstin Maria Rippel, Wirtschaftsvereinigung Stahl
Welche Rolle kann Ihr Verband im Transformationsprozess einnehmen? Wir sind mit der klaren Vision „Grüner Stahl Made in Germany“ angetreten, und damit ist zugleich unsere Rolle beschrie- ben: Wir setzen uns für einen leistungs- fähigen und klimaneutralen Stahlstand- ort Deutschland und Europa ein und sind dabei aktive Partnerin für Politik und Ge- sellschaft. Wir sprechen mit konstrukti- ver Stimme für die gesamte Stahlbran- che in Deutschland und sind stolz, dass unsere Mitgliedsunternehmen Vorreiter beim Umbau ihrer Produktionsanlagen und der Nutzung immer größerer Men- gen erneuerbarer Energie sind. Dass die allermeisten in der Politik, der Wissen- schaft und der Gesellschaft die enorme Bedeutung erkannt haben, die unsere Branche für vor- und nachgelagerte Wertschöpfungsketten hat, hilft uns, aber bei einigen müssen wir weiter Über- zeugungsarbeit leisten – und das tun wir: in der politischen, medialen und in der Verbandskommunikation.
Wie stehen die Chancen, dass der Stahlindustrie der Wandel gelingt?
Die Situation ist besser, als manche es wahrhaben wollen, steht aber an einem Kipppunkt: Die Unternehmen investieren Milliarden Euro in die Umstellung ihrer Produktion und werden dabei von der Politik unterstützt. Denn die Transfor- mation ist kein Selbstläufer. Sie wird nur mit Rahmenbedingungen gelingen, die Wettbewerbsfähigkeit sichern und dabei Energie-, Klima-, Umwelt- und Handels- politik zusammendenken. Da muss sich in Deutschland und Europa noch einiges bewegen.
Wo sehen Sie auf Seiten der Politik den derzeit größten Handlungsbedarf? Vorrangig auf drei Gebieten: Erstens und dringend muss der Strom bezahlbar ge- macht werden. Dabei geht es weniger um die Börsenstrompreise als um Strom- preisbestandteile wie Übertragungs- netzentgelte. Zu Jahresbeginn haben die sich nämlich verdoppelt – und das belastet unsere Mitgliedsunternehmen mit rund 200 Mio. € zusätzlich im Jahr. Da muss die Politik jetzt schnell für Ent- lastung sorgen, sonst sieht es insbeson- dere für die Elektrostahlroute düster aus. Zweitens braucht die klimaneu- trale Stahlproduktion enorme Mengen an
Kerstin Maria Rippel ist Hauptgeschäftsführerin der Wirtschaftsvereinigung Stahl
Wasserstoff – und das vor 2030. Deshalb setzen wir uns für einen schnellen Hoch- lauf der Wasserstoffwirtschaft ein, der eine zeitnahe Netzanbindung der Stahl- werke sichert. Und drittens müssen wir jetzt rasch grüne Leitmärkte schaffen. Mit dem Kennzeichnungssystem LESS ist ein wichtiger Grundstein gelegt. Der nächste Schritt muss ein öffentliches Beschaffungswesen sein, das die grüne Produkteigenschaft wertschätzt.
Welche Bedeutung hat LESS für den Transformationsprozess?
Der Low Emission Steel Standard ist zentrale Voraussetzung für die Umset- zung grüner Leitmärkte, mit denen die Nachfrage nach „grünem Stahl“ ange- reizt wird. Und zwar so lange, bis sich emissionsarm produzierte Grundstoffe generell an den Märkten durchgesetzt haben. Diese Märkte brauchen Definitio- nen und Regeln – und die stellt LESS be- reit, das damit ein echter Motor für die Transformation ist, der zudem einen Unique Selling Point hat: Es ist der erste Standard in einem großen stahlprodu- zierenden Land, der beide Routen der Stahlproduktion hinter sich vereint und von der Politik mitgetragen wird.
Wie fiel das Feedback auf LESS aus?
Das Interesse war riesig, die Resonanz von Stakeholdern und Medien enorm po- sitiv. Das gibt uns Rückenwind für die nächsten Schritte: die Etablierung eines
Vereins zur Verwaltung des Kennzei- chens und den Aufbau eines Zertifizie- rungssystems, damit noch 2024 der ers- te LESS-zertifizierte Stahl auf den Markt kommt. Und auch das Ziel, LESS in der EU zu verankern, bleibt.
Vor welchen Herausforderungen steht die deutsche Stahlindustrie noch?
Die Kosten für den Strom aus dem Netz sind immer noch viel zu hoch, und zu- sätzlich schwächelt die Weltkonjunktur – in Deutschland ist die konjunkturelle Abwärtsbewegung besonders hartnä- ckig. Gleichzeitig stehen wir in einem Standortwettbewerb mit Ländern, die aktiv Industriepolitik betreiben und ihre Stahlindustrie unterstützen. Der wirt- schaftspolitische Handlungsdruck, der sich aus dieser unguten Melange ergibt, ist groß.
Wie beurteilen Sie die Chancen der deutschen Stahlindustrie im europäi- schen und globalen Wettbewerb?
Die Transformation bietet große Chan- cen. Aber sie macht uns auch vulnerabel. Dies vor allem deshalb, weil in anderen Ländern graue Kapazitäten in großem Umfang aufgebaut werden, die keiner bestellt hat – Überkapazitäten, die billig auf den europäischen Markt geworfen werden. Das bedroht deutsche und euro- päische Stahlunternehmen, und dagegen brauchen wir wirksame außenhandels- politische Instrumente.
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 Foto: manfred h. vogel.de
















































































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